Gemeinschaft,
geistliche und seelische

Klick auf den Kompass öffnet den IndexKaum ein anderer hat die Unterschiede zwischen geistlicher und seelischer Gemeinschaft treffender gekennzeichnet als Dietrich Bonhoeffer (Gemeinsames Leben, 18. Aufl. 1982):

"Pneumatisch = geistlich' nennt die Heilige Schrift, was allein der Heilige Geist schafft, den uns Jesus Christus als Herr und Heiland ins Herz gibt. Psychisch = seelisch` nennt die Schrift, was aus den natürlichen Trieben, Kräften und Anlagen der menschlichen Seele kommt. Der Grund aller pneumatischen Wirklichkeit ist das klare, offenbare Wort Gottes in Jesus Christus. Der Grund aller psychischen Wirklichkeit ist das dunkle. undurchsichtige Treiben und Verlangen der menschlichen Seele" (S. 22).

Als weitere Kennzeichen der geistlichen Gemeinschaft nennt Bonhoeffer u. a.:

allein das Wort Gottes regiert und bindet. Demgegenüber trägt seelische Gemeinschaft die Charakteristika: Begehren, Finsternis, Zusammensein der "frommen Seelen", Eros; Erfahrungen, suggestiv-magische Anlagen und Menschen regieren und binden.

"So regiert dort der Geist, hier die Psychotechnik, die Methode, dort die naive, vorpsychologische, vormethodische, helfende Liebe zum Bruder, hier die psychologische Analyse und Konstruktion" (S. 23).

Ein weiterer wichtiger Unterschied:

"Innerhalb der geistlichen Gemeinschaft gibt es niemals und in keiner Weise ein unmittelbares` Verhältnis des einen zum anderen, während in der seelischen Gemeinschaft ein tiefes, ursprüngliches seelisches Verlangen nach Gemeinschaft, nach unmittelbarer Berührung mit anderen menschlichen Seelen [...] lebt. Dies Begehren der menschlichen Seele sucht die völlige Verschmelzung von Ich und Du, sei es, dass dies in der Vereinigung der Liebe, sei es nun, was doch dasselbe ist, dass es in der Vergewaltigung des anderen unter die eigene Macht- und Einflusssphäre geschieht. Hier lebt der seelisch Starke sich aus und schafft sich die Bewunderung, die Liebe oder die Furcht der Schwachen" (S. 23f.).
"[...] seelische Liebe kann den Feind nicht lieben" (S. 25), sie liebt nur den Sympathischen, denn sie ist "Begehren". Deshalb betreibt sie auch den "Ausschluss des Schwachen und Unansehnlichen" und damit letztlich "den Ausschluss Christi" (S. 29).

Wo seelische Gemeinschaft auf subjektive Gefühle und Erlebnisse aufbaut, gründet sich geistliche Gemeinschaft auf die Wirklichkeit Gottes:

"Im Glauben sind wir verbunden, nicht in der Erfahrung" (S. 30). Bonhoeffer warnt in diesem Zusammenhang auch vor der Gefahr einer bloß "seelischen Bekehrung" (S. 22).

Alle bei Bonhoeffer genannten Kennzeichen einer seelischen Gemeinschaft finden sich in der heutigen Gruppendynamik wieder. Wir finden auch seelische Pseudobeichten und Pseudobekehrungen. Auch wenn "der Geist weht, wo er will" (Joh 3,8) — wir haben Anlass, kritisch zu fragen, ob Erfahrungen wie "Vergebung" und "Heilsfreude" in gruppendynamischen Sitzungen nicht sehr oft durch "Überwältigung des Schwachen durch den Starken" (Gemeinsames Leben, S. 24) zustande kommen, also durch psychologischen Gruppendruck statt durch klare Erkenntnis des Wortes Gottes unter der Leitung des Heiligen Geistes (Röm 10,17). Wird heute nicht oft der Heilige Geist mit dem Gefühl verwechselt? Diese Gefahr besteht leider auch bei zu emotional aufgemachten Evangelisationen.

Eine zentrale Bibelstelle zum Thema geistliche Gemeinschaft ist Kol 2,2 ff.:

"... damit ihre Herzen gestärkt und zusammengefasst werden in der Liebe und zu allem Reichtum des vollen Verständnisses, zur Erkenntnis des Geheimnisses Gottes: Christus, in dem alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen liegen."

Hier ist die Rede vom Herzen, vom heiligen, innersten Personzentrum. Die Herzen werden zusammengefügt, aber nicht durch Technik, sondern durch die göttliche Liebe (Agape), die Kraft schenkt, auch den Feind und den Unsympathischen zu lieben (Mt 5,43 ff.). Und sie werden vorher nicht durch "Auftauen" geschwächt (die Identität des Gläubigen wird nicht zerbrochen), sondern sie werden ge-stärkt. Durch die Erkenntnis und Annahme des personalen und göttlichen Geheimnisses Christus kann und wird dann (ohne psychologische und gruppendynamische Manipulation) aus dem neuen Leben in Christus heraus eine Veränderung des Menschen eintreten, nämlich die von Gott gewirkte Heiligung (vgl. Röm 3-8).

Ein Bild soll das veranschaulichen:

Wo unterschiedliche Menschen zusammenleben, kann, ja wird es zu Spannungen kommen. Es gibt Menschen, die in ihrem Wesen stachelig wie ein Igel und dickhäutig wie ein Elefant sind — und es gibt Menschen, die zartfühlend sind wie ein Veilchen. Normalerweise gehen sich solche verschiedenen Menschentypen aus dem Weg. Angst- und Hassgefühle zwischen ihnen sind an der Tagesordnung. Psychologische Methodiker, die Gemeinschaft herstellen wollen, gehen so vor, dass sie die Identität der gegensätzlichen Menschen aufzuweichen und einander anzunähern versuchen. Der Igel soll seine Stacheln verlieren, und das Veilchen soll stärkere Blätter bekommen. Unmittelbarer Kontakt wird angestrebt durch totale Enthüllung der Persönlichkeit mit dem Ziel ihres Zerbruchs. Wo aber Methodik herrscht, bleibt für die Liebe kein Raum. Wo mit Angst und Zerbrechen der Persönlichkeit gearbeitet wird, da ist nicht die Liebe Christi, die die Furcht austreibt (1 Joh 4,18). Christi Liebe hingegen akzeptiert die Persönlichkeit des einzelnen. Ihr Angriffsziel ist die Sünde, aber nicht der Mensch als solcher, der Mensch als Typ. Igel bleibt Igel und Veilchen bleibt Veilchen — beide in ihrer jeweiligen Eigenart. Wie aber kommt es zum Kontakt zwischen beiden? Indem Jesus dazwischentritt. Jesus trennt Igel und Veilchen im Blick auf die unguten Dinge zwischen ihnen — und er verbindet sie durch die Kraft seiner vergebenden Liebe. Jesu Liebe ist es, die die Herzen unterschiedlicher Menschen gleichermaßen erfüllen kann und dadurch geistliche Gemeinschaft begründet.

Es entsteht keine "Gemeinschaft um jeden Preis", auch auf Kosten der Wahrheit, sondern eine Gemeinschaft in Einheit und Wahrheit, in der Weisheit und Erkenntnis Christi.

S. auch: Gemeinde; Gruppendynamik; Seelsorge.

Lit.: D. Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, 1984; L. Gassmann, Was ist Gruppendynamik?, 1998.

Lothar Gassmann

 


Index

Etliche Texte sind auch in gedruckter Form erschienen in verschiedenen Handbüchern (je 144-200 Seiten, je 9,80 Euro):

1. Kleines Sekten-Handbuch
2. Kleines Kirchen-Handbuch
3. Kleines Ökumene-Handbuch
4. Kleines Endzeit-Handbuch
5. Kleines Katholizismus-Handbuch
6. Kleines Anthroposophie-Handbuch
7. Kleines Zeugen Jehovas-Handbuch
8. Kleines Ideologien-Handbuch
9. Kleines Esoterik-Handbuch
10. Kleines Theologie-Handbuch

Weitere Handbücher (über Theologie, Esoterik, u.a.) sind geplant. Informationen bei www.l-gassmann.de