Feindesliebe

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1. Vorbemerkung

Das Thema "Feindesliebe" besitzt angesichts der Diskussion über Krieg und Friede n stets große Aktualität. Hier geklärt werden, was der für die Friedensfrage zentrale Begriff "Feindesliebe" in der Bibel und insbesondere im Neuen Testament (NT) bedeutet und welche direkten Folgen sich daraus für den Einzelnen und für die Staaten ergeben.

2. "Feind" in der Bibel

Das Griechische kennt mehrere Wörter für "Feind". Im weltlichen antiken Griechisch unterschied man zwischen Polemios und Echthros. Polemios war der Feind im Krieg, Echthros der persönliche Gegner, den man hasste. Im NT wird Polemios kaum gebraucht. Echthros hingegen erhält eine umfassendere Bedeutung als im weltlichen Griechisch. Dies hängt damit zusammen, dass das NT inhaltlich in der Tradition des Alten Testamentes (AT) und damit des hebräischen Denkens steht und sich nur formal an die griechische Sprache anschließt. Das hebräische Oieb im AT nun bezeichnete den persönlichen und den nationalen Feind, insbesondere den Feind Gottes und des Gottesvolkes Israel. Oieb wurde in der griechischen Übersetzung des AT, in der Septuaginta, fast durchweg mit Echthros wiedergegeben. Über diese Traditionskette (AT – Septuaginta – NT) ist die Bedeutung von Oieb für das neutestamentliche Echthros prägend gewesen. Echthros hat dann allerdings vom Neuen Bund in Christus her eine weitergehende Bedeutungserfüllung erfahren (insbesondere die Ausdehnung des Feindesbegriffs auf Feinde Christi und seines Volkes). So bezeichnet Echthros im NT:

3. "Liebe" in der Bibel

Wie für "Feind" kennt das weltliche antike Griechisch auch mehrere Begriffe für "Liebe" mit jeweils unterschiedlicher Bedeutung: Eros, Philia, Agape (s. Liebe). Im Alten Bund macht die Liebe in der Regel an der Grenze des Gottesvolkes halt. Erst das NT bringt das radikal Neue: die Feindesliebe, die grundlegend gilt, die völlig selbstlos und opferbereit ist. Sie wird von Jesus vorgelebt und gelehrt. Sie wird ermöglicht durch die Liebe Gottes zu uns, als wir noch seine Feinde waren. Sie stößt aber auch weiterhin an Grenzen. Um diese Aspekte soll es in den folgenden Abschnitten gehen.

4. "Liebet eure Feinde!"

Auslegung von Matthäus 5,43-44: Jesus erfüllt und überbietet das alttestamentliche Gesetz. Dies wird in den Gegenüberstellungen von Altem und Neuem (Antithesen) in der Bergpredigt deutlich. Nach den Antithesen bezüglich Töten, Ehebruch, Ehescheidung, Schwören und Wiedervergeltung folgt als sechste und letzte die Antithese zur Feindesliebe. Sie ist die Krönung und höchste Erfüllung der neuen, besseren Gerechtigkeit, die mit Jesus gekommen und ermöglicht ist (Mt 5,20). Wer aber soll die bessere Gerechtigkeit leben? Wem gelten das Gebot der Feindesliebe und die anderen Worte Jesu in der Bergpredigt? Betrachtet man allein das Matthäusevangelium, so ist die Antwort einfacher, als wenn man auch das Lukasevangelium einbezieht. Denn bei Lukas begegnen die Worte, die bei Matthäus in einer Rede stehen, einzeln und über weite Teile des Evangeliums verstreut, so dass nicht immer deutlich wird, wer angesprochen ist. In Mt 5,1f. wird deutlich, dass alle Dabeistehenden Jesus hören konnten, aber nur seine Jünger angesprochen waren. Es handelte sich um keine Predigt, sondern eine Lehrunterweisung für die, die bereits in der Nachfolge standen (Jesus "lehrte" – und er lehrte "sie": die Jünger). Auch bei der lukanischen Parallelstelle in der "Feldrede" wird das klar. In Lk 6,17ff. wird berichtet, dass sich viel Volk und seine Jünger um Jesus versammelt hatten. Dann heisst es vor den Seligpreisungen:

"Und er hob seine Augen auf über seine Jünger (!) und sprach ..." (Lk 6,20).

Die Worte Jesu gelten somit jedem, der in seiner Nachfolge steht. Wer noch nicht in der Nachfolge steht, wird durch das Hören der Worte gerufen, in die Nachfolge zu treten. Die Fernstehenden reagieren nicht mit der Annahme des Gehörten, sondern mit Erstaunen und Entsetzen (Mt 7,28). Angesichts der Vollmacht Jesu erkennen sie ihre Ohnmacht, angesichts der Forderungen Jesu ihr Überfordertsein. Für sie gilt wirklich in ihrem Leben das Wort "Du sollst deinen Feind hassen". 

Ein Gebot des Feindeshasses findet sich nun allerdings im AT nicht. Faktisch war aber die Situation in Israel zur Zeit Jesu so, dass man die größte Liebe dem zukommen ließ, mit dem man glaubensmäßig besonders verbunden war. Hier galt das Liebesgebot uneingeschränkt. Für den Andersglaubenden, den Fremden oder gar den Feind blieben, nur einige Liebeserweise übrig. Von den Rachepsalmen und ähnlichen Stellen im AT her schien es sich nahe zu legen, solchen Menschen mit Hass, Verachtung und Vernichtung zu begegnen. Dies geschah denn auch im Verhalten vieler Schriftgelehrten und Pharisäer (vgl. z. B. Mt 23) und – ausdrücklich formuliert – in der Gemeinderegel der Qumran-Essener:

"Ewigen Hass gegen alle Männer des Verderbens!",

d. h. gegen alle Nicht-Essener (l QS 1,10; IX, 2).

Dieses Liebe-Hass-Schema ("Liebe den Freund, hasse den Feind!") entspricht dem Gerechtigkeitsdenken des "natürlichen" Menschen, der keine Versöhnung durch Gott erfahren hat. Die Versöhnung ist in Jesus Christus erfolgt. Seither gilt das Liebesgebot uneingeschränkt für das Verhalten jedes Christen gegenüber Andersdenkenden, Andersglaubenden und Feinden jeder Art. Hass tötet, Liebe lädt ein. Liebe kann auch vor Recht ergehen. Dass dieses Gebot für Christen in Unterscheidung zu Nichtchristen Gültigkeit hat, wird vollends daran deutlich, dass Jesus im Zusammenhang mit dem Liebesgebot dazu aufruft, für die (nichtchristlichen!) Verfolger Fürbitte zu tun (Mt 5,44; zur Verfolgung vgl. Mt 5,11).

Menschen, die versöhnt sind und denen diese Versöhnung im Glauben zur Wirklichkeit und Gewissheit geworden ist, haben teil am neuen, ewigen Leben in Jesus Christus (Röm 5,8-10). Sie erhalten als in diesem neuen Leben Stehende von Jesus die Kraft zu einer neuen Existenz, in der Feindesliebe keine prinzipiell unerfüllbare Forderung mehr sein muss. Von der Liebe Gottes getragen, erfahren sie die Worte von der Feindesliebe nicht als knechtendes Gesetz, sondern als freimachenden Zuspruch – als Zuspruch, die in Christus erfahrene Liebe an andere weiterzugeben. Sie sind versöhnte Versöhner.

"Darum werdet vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist" (Mt 5,48).

"Vollkommen" meint hier nicht "perfekt", sondern "ganz": ganz eins mit Gott in der Liebe. Gott ist – in Jesus erkennbares – Vorbild und "Kraftquelle" hierzu für jeden, der ihn zum Vater hat. Jesus selbst hat seine Feinde bedingungslos geliebt – selbst dann noch, als sie ihn verspotteten, schlugen und in den Tod schickten:

"Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!" (Lk 23,34).

(Sein heiliger Zorn, z. B. in Mt 23, darf nicht mit Hass verwechselt werden. Jesus zürnt aus Liebe zu den verführten Menschen, auch aus Liebe zu den verführten Verführern, aber er hasst sie nicht. Nachgiebigkeit gegenüber Verführung und Lüge wäre gerade keine Liebe, sondern rücksichtslose Geringschätzung von Menschen.)

5. Grenzen der Feindesliebe

Die Grenze bezüglich der Gültigkeit des Gebots der Feindesliebe verläuft nicht prinzipiell zwischen Christen und Nichtchristen. Auch Nichtchristen sind zur Feindesliebe eingeladen (auch das Volk – in der Unterschiedenheit von den Jüngern – hört die Bergpredigt) und können sie oftmals praktizieren (manchmal besser als Christen). Aber für den, der die Kraft des Evangeliums nicht erfahren hat, ist der Ruf zur Feindesliebe ein knechtendes Gesetz und kein befreiender Zuspruch ("das Volk entsetzte sich / erstaunte über seine Lehre"; Mt 7,28). Deshalb ergeht im NT vor der Lehre der Gebote die freimachende Verkündigung des Evangeliums, verbunden mit dem Ruf in die Nachfolge Jesu (Mt 4,19ff.23). Aus Feinden Gottes sollen Jünger und aus Jüngern sollen Liebende werden. Wo die "Stufe" des Jüngerseins fehlt, bleibt die Feindesliebe eine verkrampfte, gesetzliche Sache und – in Gottes Augen – ein frommes Werk, das nicht rechtfertigen und retten kann. Feindesliebe an sich ist aber für den Nichtchristen keineswegs unmöglich.

Eine unumstößliche Grenze für die Feindesliebe besteht aber da, wo durch sie der Macht des Bösen Raum gegeben würde. Gegenüber dem Teufel und seinen Mächten gibt es keine Liebe. Gegen böse Taten sind Ordnungsmächte von Gott eingesetzt. Würde man dem Bösen Raum geben, so würde man das Gute preisgeben und aus Liebe gegenüber dem Bösen die Liebe gegenüber dem Guten fallen lassen. Man muss hier zwischen Gut und Böse scheiden und sich für das Gute entscheiden. (Sicher ist es nicht immer einfach, zu entscheiden, was gut und was böse ist. Dennoch sagt es – auch Nichtchristen – ihr Gewissen, vorausgesetzt, dass es nicht verroht ist; Röm 2,14ff.)

Nach Röm 13,1-7 ist die von Gott eingesetzte Instanz, die in der Welt dem Bösen wehren soll, die Obrigkeit (Staat, Regierung, Ordnungsmacht). Ihr soll man sich – in kritisch-begleitender Mitsprache – unterordnen (auch wenn sie nicht perfekt ist und nie perfekt sein wird); denn sie wehrt der Unordnung, wenn nötig, auch mit Gewalt:

"Sie trägt das Schwert nicht umsonst: sie ist Gottes Dienerin, eine Rächerin zur Strafe (zum Zorn Gottes) über den, der Böses tut" (Röm 13,4).

Die Grenze des Gehorsams gegenüber der Obrigkeit ist allerdings da erreicht, wo sie selber böse wird, wo sie Gottes gute Ordnungen bewusst bekämpft und für Kritik an ihrem Vorgehen nicht mehr offen ist. Dann gilt: "Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen" (Apg 5,29). Das Verhalten des Christen seinerseits in einer solchen Lage wird aber auch dann von der Feindesliebe geprägt sein müssen. Liebe kann nun allerdings auch Verweigerung gegenüber einer widergöttlichen, bösen Obrigkeit bedeuten, und zwar auf den Gebieten, die mit dem christlichen Glauben in Widerspruch stehen. Das Ziel solcher Verweigerung wird ein zweifaches sein:

a) dieser Obrigkeit ein Zeichen zu setzen, dass sie auf bösem Weg ist;

b) den übrigen Mitmenschen ein Zeichen zu setzen, damit sie vom bösen Weg der Obrigkeit fernbleiben. Für einen Christen bedeutet Widerstand nicht Gewalt, sondern Leiden: Leiden um der Liebe zu den Verirrten willen. Leiden um der Feindesliebe willen.

"Rächet euch selber nicht, meine Lieben, sondern gebet Raum dem Zorn Gottes!" (Röm 12,19).

"Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem" (Röm 12,21).

Wer dennoch als Christ im äußersten Notfall und nach sorgfältiger Gewissensprüfung Gewalt befürwortet (wie z. B. Dietrich Bonhoeffer unter dem Nationalsozialismus), tut dies im Bewusstsein, selbst schuldig zu werden, um ein unerträgliches Übel von anderen abzuhalten oder abzuwehren.

6. Feindesliebe heute. Zusammenfassung und aktueller Bezug

Die bedingungslose, sich selbst schenkende Liebe zum Feind findet sich allein in Leben und Lehre Jesu begründet. Jesus selber ermöglicht uns diese Liebe, weil wir durch seinen Opfertod am Kreuz mit Gott versöhnt worden sind, als wir noch Feinde, Sünder, von Gott Getrennte waren. Der Überwinder der Feindschaft zwischen Gott und Mensch will auch die Überwindung der Feindschaft zwischen Mensch und Mensch. Er nimmt uns deshalb als Glaubende in sein Versöhnungswerk hinein und macht uns zu versöhnten Versöhnern. Er trägt uns und schenkt uns Kraft zur bedingungslosen Liebe. Wenn wir dennoch versagen, dürfen wir auf sein vergebendes Erbarmen vertrauen. Sind wir mit Jesus verbunden, so trifft uns das Gebot der Feindesliebe nicht mehr als bedrückendes Gesetz, sondern als freimachender Zuspruch, auch anderen die Liebe Gottes weiterzugeben, die wir in Jesus erfahren haben. Feindesliebe findet ihre Grenze am Bösen in der Welt. Der Christ ist gerufen, dennoch zu lieben oder als einer, der sich dem Bösen verweigert, zu leiden. Die Obrigkeit (und auch der Christ im Amt) aber muss das Böse und den Bösen aktiv bekämpfen – aus Liebe zu dem schutzbedürftigen Guten. Für den Staat gilt es in erster Linie, die Gerechtigkeit aufrechtzuerhalten – mehr kann er nicht tun, weil nicht alle Christen sind, die in der Liebe Christi stehen (sollten). In Sachen Gerechtigkeit allerdings sollte der Staat immer dann Milde walten lassen, wenn Aussicht besteht, dass der Böse durch die Erfahrung verzeihender Liebe zurechtgebracht wird.

Konkret heisst dies: Als Christ antworte ich dem, der mich persönlich verflucht, hasst, beleidigt und verfolgt, mit Liebe. Stehe ich aber in einem Amt, das mir aufträgt, andere Menschen vor Verbrechen, Terror, Mord und Unrecht zu schützen, so muss ich wie jeder Nichtchrist in dieser Position das Böse bekämpfen. Eine Rücksichtnahme gegenüber dem Bösen darf auf keinen Fall die Liebe zum Guten, Freund oder Bruder verdrängen, wo Gut und Böse miteinander in Konflikt stehen.

Nun stellt sich die Frage: Gibt es Feindesliebe zwischen Völkern und Staaten? Antwort: Nein. Angesichts vieler gegensätzlicher Weltanschauungen und Machtblöcke sowie angesichts der Herrschaft des Bösen in der Welt (1. Mose 3; Eph 6,10ff) muss man sagen, dass Feindesliebe im zwischenstaatlichen (wie in jedem politischen) Bereich Utopie bleiben wird. Andererseits freilich sollte angesichts der allesbedrohenden Atomwaffenarsenale und angesichts der Grausamkeit jedes Krieges die Entscheidung für den Weg der Gewalt auch in der "gottlosen Welt" nur der allerletzte Schritt nach der Ausschöpfung aller anderen politischen und diplomatischen Möglichkeiten sein. Auch ein sogenannter "gerechter Krieg" nämlich, der von der Heiligen Schrift her nicht völlig ausgeschlossen werden kann (vgl. 4. Mose 21,14; 1. Sam 8,20; 17,47; Ps 46,10; 144,1 u.a.; s. auch Mt 24,6) und daher von den Reformatoren gutgeheißen wurde5, kann sich heute sehr schnell zu einem Flächenbrand ausweiten. Das sollten wir nicht übersehen. Hier bleibt letztlich eine unauflösliche Spannung bestehen, die mit der Gefallenheit der Schöpfung und der Schuld des Menschen zusammenhängt.

Folgendes jedenfalls dürfte unbestritten sein: Ohne die Grenze zwischen dem Evangelium und nichtchristlichen Religionen und Weltanschauungen zu verwischen, sollten gerade Christen das Gespräch mit andersdenkenden Einzelnen und Regierungen suchen. Sie sollten, ihrer Sache gewiss, ohne Furcht die Botschaft von der Liebe Jesu weitersagen und weitertragen. Christen in allen Ländern sind gerufen, ihre Regierungen auf das Liebesgebot Jesu hinzuweisen und sie zur Versöhnungsbereitschaft zu bewegen. Diese Versöhnung darf nicht auf Kosten der christlichen Wahrheit (Joh 14,6; Apg 4,12) erfolgen.

Im Gegenteil: Sie muss und kann allein von der Mitte des Evangeliums ausgehen – von der in Jesus Christus in die Welt gekommenen Liebe.

Lit.: Foerster, Art. "echthros", ThWNT 2, 1950, 810 ff.; M. Luther, Von weltlicher Obrigkeit, WA 11, 245 ff.; K. Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde, 1946.

Lothar Gassmann


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1. Kleines Sekten-Handbuch
2. Kleines Kirchen-Handbuch
3. Kleines Ökumene-Handbuch
4. Kleines Endzeit-Handbuch
5. Kleines Katholizismus-Handbuch
6. Kleines Anthroposophie-Handbuch
7. Kleines Zeugen Jehovas-Handbuch
8. Kleines Ideologien-Handbuch
9. Kleines Esoterik-Handbuch
10. Kleines Theologie-Handbuch

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