Jahrwochen, siebzig

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In Daniel 9,24-27 ist von siebzig Jahrwochen die Rede. Diese Stelle hat immer wieder Anlass zu Spekulationen geboten. Worum geht es?

In Dan 9,24-27 ist die Rede von siebzig Siebenheiten. Das wird immer wieder für "Jahrwochen" verwendet, also nicht nur einfache Wochen. Man kann diese ganzen Voraussagen nämlich nicht in 70 einfachen Wochen unterbringen, es müssen also Jahrwochen sein. Eine Jahrwochen bedeutet: Sieben Jahre entsprechen einer Woche, d. h. 70 x 7 Jahre zusammen ergeben 490 Jahre. Es bleibt nur die Frage, ob diese sich direkt hintereinander erfüllen oder ob da auch Lücken sind und wo die Lücken sind. Hier existieren unterschiedliche Versionen in der Forschung. Der Beginn liegt jedenfalls in dem Jahr, in dem "das Wort erging, Jerusalem werde wieder aufgebaut werden". Dieser Zeitpunkt kann nicht zu weit entfernt sein von der Zeit Daniels (6. Jh. v. Chr.). Die Frage ist nur, wann Jerusalem wieder erbaut wurde – und wann das Edikt dafür erlassen worden ist. Hierzu existieren verschiedene Ansichten:

a. Eine Deutung sagt, es sei der Erlass des Kyros im Jahre 538 v. Chr. Aber dieser bezieht sich ausdrücklich nur auf den Tempelbau (Esra 1,1-3; 2. Chronik 36,22 u. 23)

b. Ebenfalls nur auf den Wiederaufbau des Tempels beziehen sich die in Esra 6,1 ff. und 7,21 erwähnten Verordnungen des Darius und Artaxerxes (Arthasasta).

c. Das einzige Edikt, in dem auch der Wiederaufbau der Stadt Jerusalem in diesem Zeitraum zur Sprache kommt, ist die in Nehemia 2, 1-8 vom persischen König Artaxerxes an Nehemia erteilte Genehmigung, die dann auch tatsächlich zum Wiederaufbau der Stadt führt. Diese hat sich also auch auf die Stadt bezogen, nicht nur auf den Tempel. Und dieses Edikt wurde im 20. Regierungsjahr des Artaxerxes (445 v. Chr.) von diesem herausgegeben. Hier liegt also aller Wahrscheinlichkeit nach der Beginn der siebzig Jahrwochen. Das ist eine Deutung, die etwa Jahrwochen Dwight Pentecost (Bibel und Zukunft, 1993, 264f.) im Anschluss an Robert Anderson (The Coming Prince, 1909) vertritt. Das Gleiche denkt John F. Walvoord (Brennpunkte biblischer Prophetie, 1991, 154f.). Ich schließe mich dieser Sichtweise an.

Die ersten 69 Wochen enden, wenn "ein Gesalbter ausgerottet werden wird". Das wird auf die Ausrottung, die Kreuzigung eben, des Messias Jesus gedeutet. Walvoord schreibt: "Wenn die 490 Jahre 445 v. Chr. beginnen, würden die 483 Jahre (also ohne die letzten sieben Jahre; L. G.) 33 n. Chr. erfüllt sein" (S. 155). Dies ist eine erstaunliche Rechnung, die sich nicht ohne weiteres von der Hand weisen lässt. Eine Voraussetzung ist jedoch, dass die Jahre als prophetische Jahre gerechnet werden müssen, zu je 360 Tagen, damit es genau aufgeht. Das mag eine Schwäche sein, aber es wird auch begründet: Diese 360 Tage werden historisch und prophetisch gedeutet. Die historische Deutung hängt zusammen mit der Sintflut. Im Sintflutbericht ist davon die Rede, dass sie am 17. Tag des zweiten Monats begann und 17. Tag des siebten Monats zu Ende ging – ein Zeitraum von fünf Monaten (Gen 7,11; 8,4). Dann wird als parallele Zahl "150 Tage" (Gen 7,28; 8,3) genannt. Fünf Monate mit insgesamt 150 Tagen ergeben einen Querschnitt von 30 Tagen pro Monat. So argumentiert etwa Pentecost (S. 263 f.) im Anschluß an Alva Jahrwochen McClain (Daniel`s Prophecy of the Seventy Weeks, 1940). Das zweite Argument ist prophetisch: Wir finden in der Offenbarung (Offb 12 u. 13) und in Daniel (Dan 7) verschiedene Zeitangaben, die einmal in Jahren, einmal in Monaten und einmal in Tagen ausgedrückt werden: dreieinhalb Jahre = 42 Monate = 1.260 Tage. Auch das ergibt Monate zu je 30 Tagen. Prophetische Jahre haben offensichtlich 360 Tage gehabt, die dann durch Schaltjahre ausgeglichen wurden.

Weitere Argumente lauten, dass die in Daniel 9,26 beschriebenen Ereignisse eine Zwischenzeit erfordern zwischen der "Ausrottung des Gesalbten" und dem "Ende". Wenn man die 69 ersten Jahrwochen (= 483 prophetische Jahre mit Monaten von je 30 Tagen) vom Edikt des Artaxerxes (445 v. Chr.) bis zur Kreuzigung Jesu (33 n. Chr.) laufen lässt, kann die letzte Jahrwochen von sieben Jahren sich nicht unmittelbar an die Kreuzigung Jesu anschließen. Würden sich die sieben Jahre unmittelbar an Jesu Kreuzigung anschließen, dann hätte Jesus ja sieben Jahre nach seiner Kreuzigung wiederkommen müssen. Hinzu kommt, dass das Volk Israel seit 70 n. Chr. (Zerstörung Jerusalems und des Tempels) heilsgeschichtlich beiseite gesetzt ist, bis das Handeln Gottes mit ihm wieder aufgenommen wird (vgl. Röm 9-11). Es sind zwei Fürsten, ein Gesalbter und ein anderer Fürst, deren Kommen in Dan 9,25 f. vorausgesagt wird. Israel muss in der letzten, der siebzigsten Jahrwochen wieder existieren, denn der andere Fürst (nach der klassischen Deutung: der Antichrist) schließt einen Bund mit Israel. Die Erwähnung von "Schlacht- und Speisopfern" in Dan 9,27 sowie eines Gräuelbildes im "Heiligtum" deutet darauf hin, dass es sich um Israel und seinen wiedererrichteten Tempel handeln dürfte. Die Gemeinde verkörpert eben nicht das endzeitliche, wiederhergestellte Israel. Man könnte die Gemeinde höchstens geistlich auf Israel deuten – und auch das nur in der Zwischenzeit, solange das Israel dem "Fleische" nach noch nicht besteht. Dass aber Israel wieder besteht, wenn auch (noch) ohne wiedererrichteten Tempel, ist spätestens seit 1948 unbestreitbar (Israel, Zeichen der Zeit).

Ein anderes "System" hat Gerhard Maier in seinem Kommentar "Der Prophet Daniel" (1982, 345ff.) vorgeschlagen. Er lässt die siebzig Jahrwochen bereits mit dem Jahr 588/587 v. Chr. beginnen. In dieser Zeit geschahen nach seiner Meinung die Zerstörung Jerusalems und die Wegführung der Juden in das 50jährige Exil (normalerweise werden diesbezüglich in der Forschung allerdings die Jahre 587/586 genannt). Maier deutet nun die ersten sieben Jahrwochen, also 49 Jahre auf dieses 50jährige Exil (588/587 bis 539/538 v. Chr.). Das halte ich aber für unwahrscheinlich, weil 588 oder 587 v. Chr. meines Wissens kein Erlass herausgegeben wurde, Jerusalem wiederaufzubauen. Ferner muss Maier verschiedene Lücken annehmen, nicht nur eine Lücke, sondern zwei Lücken: Zum einen sei zwischen 538 und ca. 440 v. Chr. kein Weiterlaufen der Jahrwochen erfolgt, denn in dieser Zeit seien Jerusalem und der Tempel noch nicht wieder völlig befestigt gewesen. Da seien die Jahrwochen stehen geblieben. Erst mit dem Edikt des Artaxerxes (445 v. Chr.), das allerdings erst um 440 v. Chr. zur Ausführung gelangte, seien die Jahrwochen weitergelaufen. Maier datiert die verbleibenden 62 Jahrwochen (ohne die 70. Woche der großen Trübsal) auf den Zeitraum von 440 bis 6 v. Chr. (Maier rechnet nicht in "prophetischen Jahren"). Sie enden also mit der Geburt Jesu. In der Zeit von 6 v. Chr. bis 27 n. Chr. sieht Maier wieder eine Lücke. Die Jahrwochen seien hier wieder stehen geblieben. 27 n. Chr. hätte die letzte, siebzigste Jahrwochen begonnen und sich zum ersten Mal erfüllt. Sie erfülle sich jedoch insgesamt dreimal (Mehrfach-Erfüllung):

a. Die erste 70. Jahrwochen habe sich von 27 bis 34 n. Chr. erstreckt.
"In der Mitte, 30 n. Chr., stirbt Jesus am Kreuz. Danach tritt der Neue Bund in Kraft und die Heidenmission beginnt" (Maier, 354).
– Diese Deutung halte ich nicht für sehr hilfreich, weil nämlich ausdrücklich diese 70. Jahrwochen als Gerichtszeit gekennzeichnet ist (vgl. Dan 9,26 f.). Die erste Deutung ist zwar deshalb nicht ganz auszuschließen, aber unwahrscheinlich.

b. Die zweite Erfüllung der 70. Jahrwochen liegt nach Maier im Zeitraum von 66 bis 73 n. Chr. — Das halte ich durchaus für haltbar, denn die Zerstörung und Tempelschändung Jerusalems trat 70 n. Chr. ein, in der Mitte zwischen 66 und 73 n. Chr.

c. Die dritte Erfüllung ist die noch kommende Zeit des Antichristen, der in der Mitte dieser 70. Jahrwochen den Bund mit Israel bricht. Man geht davon aus, dass der Antichrist als Person auftreten und einen Bund am Anfang der 70. Jahrwochen schließen wird, den er nach dreieinhalb Jahren bricht, woraufhin sich dann die große Trübsalszeit vollends ausbildet (Antichrist, Zeichen der Zeit).

S. auch: Eschatologie; Endzeit-Berechnungen.

Lit.: L. Gassmann, Was kommen wird. Eschatologie im 3. Jahrtausend

Lothar Gassmann


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