Erkenntnisse höherer Welten

Klick auf den Kompass öffnet den IndexKernbegriff in der Anthroposophie Rudolf Steiners, der das Eindringen in Geisterreiche bezeichnet (Spiritismus).

1. Voraussetzungen:

Steiners "Geheimwissenschaft" beruht auf zwei Grundvoraussetzungen, mit deren Vorhandensein oder Nichtvorhandensein sie steht oder fällt:

"Diese beiden Gedanken sind, dass es hinter der sichtbaren Welt eine unsichtbare, eine zunächst für die Sinne und das an diese Sinne gefesselte Denken verborgene Welt gibt, und dass es dem Menschen durch Entwickelung von Fähigkeiten, die in ihm schlummern, möglich ist, in diese verborgene Welt einzudringen" (Steiner-TA 601,33).

Wie Steiner zugesteht, bedeuten

"für viele Menschen ... schon diese Gedanken höchst anfechtbare Behauptungen, über die sich viel streiten lässt, wenn nicht gar etwas, dessen Unmöglichkeit man `beweisen' kann" (ebd).

Die einzige Möglichkeit, diese Gedanken nachzuprüfen und Erkenntnisse höherer, übersinnlicher Welten zu erlangen, beruhe daher nicht auf intellektuell-distanzierter Diskussion, sondern auf existentiell-engagiertem Beschreiten des "Erkenntnisweges", wie Steiner ihn lehrt:

".., wenn es möglich ist, eine andere Erkenntnisart [sc. als die geläufige naturwissenschaftlich-materialistische] zu entwickeln, so kann doch diese in die übersinnliche Welt führen" (601,34f).

"Und wie jeder schreiben lernen kann, der die rechten Wege dazu wählt, so kann jeder ein Geheimschüler, ja ein Geheimlehrer werden, der die entsprechenden Wege dazu sucht" (600,14).

Der Außenstehende hingegen, der nicht bereit sei, diesen Erkenntnisweg zu beschreiten, gelange nie zum Ziel und sei weder befähigt noch berechtigt, die Anthroposophie zu beurteilen. Er dringe nicht in die "höheren Welten" vor. Im folgenden wollen wir klären, was damit gemeint ist.

2. Die Beschaffenheit der "höheren Welten"

F. Rittelmeyer fasst die Steinersche Gottesvorstellung so zusammen:

"Wer die anthroposophische Geisteswissenschaft studiert, vernimmt vieles darüber, wie hinter allem, was wir Natur nennen, Geistiges lebt, nicht nur in dem Sinn, dass Gott mit seinem Willen und Sein fortwährend alles Dasein trägt und hält und leitet, sondern in dem Sinn, dass der eine Gott durch eine Fülle von geistigen Wesen auf allen Stufen und in allen Arten alle Reiche des Daseins durchwaltet und seinen Zielen zuführt" (Theologie und Anthroposophie, 1930, 81).

Die anthroposophische Weltanschauung geht demzufolge von einem Stufenbau der Welt aus, der grob so gegliedert ist:

Die "Geist-Welt" bzw. die >platonische "'Welt der Urbilder"' ist die Welt, ...

"die darüber ist und in der sich nichts mit irgendwelchen zeit-räumlichen Vorstellungen fassen oder auch nur vergleichen lässt".

Es gibt jedoch

"ein feines Element, eine feine Substanz, in der das Seelische webt und in das sich das Geistige gleichsam kleiden muss, wenn es zum Menschen kommen will".

Das geschieht durch die sogenannten Zwischenreiche:

"Erst wenn Zwischenreiche deutlich werden, in denen das Irdische zwar noch erdenähnlich, aber schon geistig, in denen das Geistige zwar schon erdennah, aber noch geistartig da ist, fängt das Verstehen an" (ebd., 68f.).

In diese Zwischenreiche gilt es einzudringen, indem man mit den darin lebenden "Wesen" oder "Geistern" Kontakt aufnimmt. Das geschieht durch "Einweihung" oder den anthroposophischen Erkenntnisweg. So kann man Stufe um Stufe zu "Gott" als dem Geist gelangen, der "aller Geister Fülle" ist. Rittelmeyer legt Wert darauf zu betonen, dass "nicht von Geistern im Sinn des Spiritismus ... sondern von Engeln, von göttlichen Dienern im Welthaushalt" die Rede sei. "Und aller Geister Fülle, aber nicht als gedankliche Zusammenfassung, sondern als beherrschendes, durchwebendes Ich, ist der Geist, ist Gott" (ebd., 82).

Diese Vorstellung von einem Stufenbau der göttlich-geistigen Welt besitzt mancherlei Parallelen zu antiken – jüdischen wie auch griechischen – Gedankensystemen, etwa zur Engellehre des ersten Henochbuches sowie zur Kosmologie eines Philo und eines >Origenes. Am auffallendsten jedoch ist die Ähnlichkeit zur Philosophie des Stoikers Poseidonios (1. Jh. v. Chr.):

"Die Welt ist für ihn ein Gebilde, das von Göttern und Menschen bewohnt wird; göttlich sind die Gestirne, allen voran die Sonne, das Herz der Welt, das Zentrum der physischen und geistigen Lebenskraft; Göttliches lebt auch in der Brust des Menschen. Aber alles Einzelne ist nur darum göttlich, weil es teilhat an dem göttlichen Geiste, der das All erfüllt, gestaltet und durchwaltet. Als reiner Geist wirkt er droben in der Ätherregion, dem Hegemonikon der Welt; aber Gott wandelt sich in alles, in das er will, durchdringt die Welt bis in ihre fernsten und niedrigsten Teile, gibt ihnen das Leben und das Gesetz ihres Daseins. Was lebt, lebt nur als Glied dieses lebenerfüllten Organismus ... 'In ihm leben, weben und sind wir' ist das Grundgefühl dieses Pantheismus" (M. Pohlenz, Die Stoa, 1984, 233).

3. Der Weg in die "höheren Welten"

Wie der anthroposophische Erkenntnisweg aussieht, soll nun skizziert werden. Wir orientieren uns dabei an den "Stufen der höheren Erkenntnis", die Steiner in seiner "Geheimwissenschaft" schildert (601,291). Sie müssen "nicht ... nacheinander durchgemacht werden", sondern können fließend ineinander übergehen und einander durchdringen (ebd). Dabei fällt auf: Je höher die Stufen werden, desto karger wird Steiners Beschreibung.

3.1. Studium der "Geisteswissenschaft":

Am Anfang steht "das Studium der Geisteswissenschaft, wobei man sich zunächst der Urteilskraft bedient, welche man in der physisch-sinnlichen Welt gewonnen hat" (601,291). Der Leser soll "die ihm von der Geisteswissenschaft mitgeteilten Tatsachen der höheren Weit zum Eigentum seines Denkens" machen (601,252). Das bedeutet konkret, dass man die Steinerschen Schriften lesen und verinnerlichen soll: "Der Leser muss zunächst eine größere Summe von übersinnlichen Erfahrungen, die er noch nicht selbst erlebt, mitteilungsgemäss aufnehmen" (601,38). Liest man die Steinerschen Schriften, dann bekommt man Mitteilung über die weiteren Stufen.

3.2. Imagination:

Imaginative Erkenntnis ist die "erste höhere Erkenntnisstufe" (601,235). Es ist eine Erkenntnis, "welche durch einen übersinnlichen Bewusstseinszustand der Seele zustande kommt", der "in der Seele erweckt wird durch die Versenkung in Sinnbilder oder `Imaginationen"' (ebd). Solche "Imaginationen" können z.B. eine Pflanze, ein Rosenkreuz oder auch Worte, Formeln und Empfindungen sein. Dabei sind die Inhalte des Vorgestellten zweitrangig, denn:

"Nicht was vorgestellt wird, ist wesentlich, sondern darauf kommt es an, dass das Vorgestellte durch die Art des Vorstellens das Seelische von jeder Anlehnung an ein Physisches loslöst" (601,229).

Die Vorstellungen sollen "eine weckende Kraft auf gewisse verborgene Fähigkeiten der menschlichen Seele ausüben" (601,228). Ist es zum "Freiwerden von den physischen Organen" gekommen, dann empfindet sich der Geistesschüler "als ein Wesen neben dem", das er vorher war, "Das ist das erste rein geistige Erlebnis: die Beobachtung einer seelisch-geistigen Ich-Wesenheit" (601,236f). "Es ist so, wie wenn man nun in voller Besonnenheit in zwei `Ichen' lebte" (601,240; an anderer Stelle spricht Steiner von einem Zerfallen des Gehirns "in drei voneinander getrennte Glieder – 600,132).

"Das zweite – das neugeborene – Ich kann nun zum Wahrnehmen in der geistigen Welt geführt werden."

Kraft dieses Ichs wird der Mensch "nunmehr um sich herum geistige Tatsachen und geistige Wesenheiten wahrnehmen" (601,241).

Dienlich dazu ist ihm die "Heranbildung der höheren Wahrnehmungsorgane innerhalb des astralischen Leibes", der "Lotusblumen" (hinduistisch: >Chakras) (601,255). Allerdings dringt der Mensch auf der Stufe der Imagination noch nicht ins Innere der Wesen vor, sondern erhält ein zunächst diffuses Bild vor, ihrer "Verwandlung" und "seelischen Äußerung" (601,260f). Steiner weiss um Gefahren, die mit dem Beschreiten des Weges in die höheren Welten verbunden sein können: verstärkter "Selbstsinn" (601,241). "Phantasterei" (601,243); Missbrauch der erlangten Erkenntnisse zur "Macht über seine Mitmenschen" und "im Sinne des Bösen" (600,48); "Beeinträchtigung der Gesundheit" (600,129) u. a. Um diesen Gefahren zu begegnen, empfiehlt er eine strenge Beachtung seiner Regeln sowie eine Denk- und ethische Schulung, die mit dem Erlangen übersinnlicher Erkenntnisse Schritt halten soll. Die "goldene Regel der wahren Geheimwissenschaften" lautet nach Steiner:

"... wenn du einen Schritt vorwärts zu machen versuchst in der Erkenntnis geheimer Wahrheiten, so mache zugleich drei vorwärts in der Vervollkommnung deines Charakters zum Guten" (600,48f).

Insbesondere die "gesunde Urteilskraft" soll gebraucht werden: "Wer nicht darauf bedacht ist, von vornherein eine gesunde Urteilskraft zur Grundlage seiner Geistesschulung zu machen, der wird in sich solche übersinnliche Fähigkeiten entwickeln, welche ungenau und unrichtig die geistige Welt wahrnehmen" (601,251).

3.3. Inspiration:

Inspiration ist die nächste Stufe. Sie kennzeichnet das Einhauchen der Zusammenhänge der geistigen Welt in den Geistesschüler. Während die imaginative Welt "ein unruhiges Gebiet" mit "Beweglichkeit, Verwandlung" gewesen ist, in der man nur "die seelische Äußerung der Wesen" erkannt hat, lernt man durch Inspiration "innere Eigenschaften von Wesen kennen, welche sich verwandeln" (601,260f):

"Durch Imagination erkennt man die seelische Äußerung der Wesen; durch Inspiration dringt man in deren geistiges Innere. Man erkennt vor allem eine Vielheit von geistigen Wesenheiten und von Beziehungen des einen auf das andere" (601, 261).

Die Inspiration wird erreicht, indem man alle sinnbildlichen Inhalte (die ja lediglich Hilfsmittel zur Loslösung des Seelischen vom Physischen sein sollten) aus dem Bewusstsein entfernt und sich "nur noch in seine eigene Seelentätigkeit [versenkt], welche das Sinnbild gestaltet hat" (601,286):

"Was ich getan habe (meinen eigenen Seelenvorgang) will ich festhalten; das Bild selber aber aus dem Bewusstsein verschwinden lassen" (601, 266).

Während die Imagination nur äußerliche, unzusammenhängende Einzeleindrücke von den "geistigen Welten" geliefert hat, die Steiner mit "Buchstaben" oder "Lauten" vergleicht, kommt es durch Inspiration zu einem Erkennen von geistigen Zusammenhängen, zu einem kontinuierlichen "Lesen" einer übersinnlichen, verborgenen "Schrift" (601, 261 f).

Diese "Schrift", die sogenannte Akasha-Chronik, liefert dem Geistesschüler bzw. >Hellseher sämtliche Erkenntnisse über die Weltentwicklung (ebd). Freilich ist keine "Schrift" und kein "Lesen" im herkömmlichen Sinn gemeint, sondern ...

"die Wesen in dieser [sc. inspirierten] Welt wirken auf den Betrachter wie Schriftzeichen, die er kennen lernen muss und deren Verhältnisse sich für ihn enthüllen müssen wie eine übersinnliche Schrift. Die Geisteswissenschaft kann daher die Erkenntnis durch Inspiration vergleichweise auch das `Lesen der verborgenen Schrift' nennen" (601,261).

3.4. Intuition:

Auf das Einhauchen (Inspiration) der Zusammenhänge der geistigen Welt folgt das Eintauchen, das "Sicheinleben in die geistige Umgebung" (601,291): die Intuition.

"Ein Geisteswesen durch Intuition erkennen, heisst völlig eins mit ihm geworden sein, sich mit seinem Innern vereinigt haben" (601,264).

Auf der Stufe der Imagination hat sich der Geistesschüler in Sinnbilder versenkt, während er auf der Stufe der Inspiration nur noch seine eigene Seelentätigkeit im Bewusstsein erhalten hat.

"Nun aber entfernt der Geistesschüler auch noch diese eigene Seelentätigkeit aus dem Bewusstsein. Wenn nun etwas bleibt, so haftet an diesem nichts, was nicht zu überschauen ist" (601,286).

Intuitive Erkenntnis ist somit "eine Erkenntnis von höchster, lichtvollster Klarheit" (601,264) – ungetrübt von der "physisch-sinnlichen Welt" und "bewahrt" vor der "Täuschung in der übersinnlichen Welt" (601,286). Eine letzte Korrektur gegen Täuschungen vor dem Eintritt in die geistige Welt stellt der "kleine Hüter der Schwelle" dar, eine Instanz des "Schämens" bzw. der Selbsterkenntnis im Menschen, die auftritt, "um den Eintritt jenen zu verwehren, welche zu diesem Eintritte noch nicht geeignet sind" (601,282). Täuschungen kommen dadurch zustande, "dass man durch die eigene seelische Wesenheit die Wirklichkeit färbt" oder dass man "einen Eindruck, den man empfängt, unrichtig deutet" (601,283). Unter dem Druck der wachsenden Selbsterkenntnis und der Tatsache, dass es "immer noch höhere Stufen" gibt, könnte man "erlahmen und zurückschrecken vor dem, was bevorsteht" (601,287f). Um dieser Gefahr zu begegnen, tritt der "große Hüter der Schwelle" auf, der dem Geistesschüler mitteilt. "dass er nicht stehenzubleiben hat auf dieser Stufe, sondern energisch weiterzuarbeiten" (601,289). Den "großen Hüter der Schwelle" setzt Steiner mit der "Christus-Gestalt" gleich: "Es verwandelt sich ... dieser Hüter in der Wahrnehmung des Geistesschülers in die Christus-Gestalt ... Der Christus zeigt sich ihm als das `große menschliche Erdenvorbild"' (601, 292). Der Impuls dieses "Christus" ist maßgeblich für das Weitergehen der individuellen und kollektiven Evolution hin zur Vergeistigung.

3.5. Weitere Stufen:

Obwohl Steiner anmerkt, dass es "immer noch höhere Stufen" gibt, egal "welche Stufe man auch erstiegen haben mag" (601,287), so versucht er doch, den von ihm beschriebenen Erkenntnisweg in Form dreier weiterer Stufen zum Abschluss zu bringen. Diese werden von ihm nur mit wenigen Sätzen skizziert und daher auch hier nur blockartig zusammengefasst:

Während die erstgenannte Stufe einen Erkenntnisakt bezeichnet, beinhaltet die zweitgenannte den Vorgang selbst. Der Geistesschüler erkennt zunächst die Entsprechung "der `kleinen Welt', des Mikrokosmos, das ist des Menschen selbst, und der `großen Welt', des Makrokosmos", um dann vollends das "Einswerden mit dem Makrokosmos" zu vollziehen (601,290f). Die "Erkenntnis höherer Welten" soll somit in einem existentiellen Akt ihren Höhepunkt und Abschluss erleben. Erkenntnis und Sein sollen ineinander verschmelzen. Inmitten dieser >hinduistisch anmutenden Gedanken von der Alleinheit fühlt sich Steiner doch der abendländischen >mystischen Tradition mit ihrer stärkeren Betonung des Wertes der Einzelseele verpflichtet, wenn er schreibt:

"Man soll nicht verwechseln dieses Einswerden der Persönlichkeit mit dem umfassenden Geistesleben mit einem die Persönlichkeit vernichtenden Aufgehen derselben in dem 'Allgeist"' (615,150).

4. Empirische Kritik der "Erkenntnisse höherer Welten":

4.1. Die fehlende Nachprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit der "Erkenntnisse":

Die Anthroposophie beansprucht, "Wissenschaft" zu sein – zwar nicht im naturwissenschaftlichen Sinn, aber doch analog zur Naturwissenschaft: "Sie will über Nichtsinnliches in derselben Art sprechen, wie die Naturwissenschaft über Sinnliches spricht" (601,29). Zum Wesen jeder Wissenschaft gehört die Nachprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit ihrer Erkenntnisse. In der Naturwissenschaft geschieht das durch Beobachtung und Experiment, also empirisch – auf der Ebene der sinnlichen Erfahrung. Durch die Erfahrung werden Erkenntnisse bestätigt oder widerlegt. Ist das analog – auf einer anderen, "höheren" Ebene – auch in der anthroposophischen "Geisteswissenschaft" möglich? Gibt es übersinnliche Erfahrungen von Anthroposophen, die die Schauungen Steiners bestätigen? Rittelmeyer schreibt hierzu: "Zur unmittelbaren Entwicklung der in dem Buch `Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?' geschilderten Erkenntnisorgane hat Rudolf Steiner nur ganz selten und nur unter strengen moralischen Voraussetzungen einigen wenigen Menschen Ratschläge gegeben ... Diese Menschen sind zwar nicht entfernt so weit gekommen, dass sie Rudolf Steiner in allem seinem Forschen nachprüfen könnten. Sie haben wohl ohne Ausnahme erlebt, dass der Weg länger und strenger ist, als sie selbst zu Beginn gedacht hatten. Aber unter ihnen und neben ihnen gibt es doch nicht wenige Anthroposophen, die auf den verschiedensten Gebieten Anfänge von. Erfahrungen gemacht haben und mit Recht sagen können: die Welt, von der Rudolf Steiner erzählt, gibt es; wir wissen aus eigenen Eindrücken, in wie hohem Grade sich als Wahrheit erweist. was er gesagt hat; ein Beweis, dass hier von Suggestion und Autosuggestion keine Rede sein kann, ist gerade dies, dass wir sehr vieles trotz aller Mühe nicht erreicht haben, und dass das, was wir erreichten, immer anders war, als wir vorher erwarteten – und dass es trotzdem Rudolf Steiners Mitteilungen bestätigte" (Theologie und Anthroposophie, 1930, 156f.). Diesen Ausführungen entnehmen wir folgendes:

a) Der anthroposophische Erkenntnisweg ist nicht allgemein nachprüfbar und nachvollziehbar:
Nur "einigen wenigen Menschen" hat Steiner Ratschläge zur "unmittelbaren Entwicklung" der hellseherischen Erkenntnisorgane gegeben – und zwar Menschen, die er "auf Grund ihrer Begabung und ihres Schicksals für geeignet hielt, näher an die Offenbarungen der Geisteswelt herangeführt zu werden" (die anderen haben lediglich mantra-ähnliche "Meditationen", "Wahrspruchworte" u.ä. zur "Wesensbildung" bekommen).

b) Selbst diese wenigen besonders "Begabten" sind nicht in der Lage gewesen, Steiner "in allem seinem Forschen" nachzuprüfen.
Sie haben "vieles trotz aller Mühe nicht erreicht", sondern lediglich "Eindrücke" gewonnen und "Anfänge von Erfahrungen" gemacht, die ihnen laut Rittelmeyer die Existenz der Steinerscher Welt bestätigt haben. Aber "Anfänge von Erfahrungen" – falls es sie gibt – lassen sich in keiner Weise mit gesicherten Ergebnissen gleichsetzen. Auch hierdurch ist die Nachprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit der Steinerschen Schauungen nicht gewährleistet.

c) Wo man "aus eigenen Eindrücken" etwas weiss, bei denen sich "als Wahrheit erweist", was einer "gesagt hat", liegt hingegen tatsächlich der Verdacht auf "Suggestion und Autosuggestion" nahe, den Rittelmeyer abwehren will. Seine Gegenargumente überzeugen nicht. Dass man "vieles trotz aller Mühe nicht erreicht", kann nicht nur ein Beweis gegen die Suggestion, sondern mehr noch gegen die Existenz (und damit gerade für die Suggestion!) des angestrebten Zieles sein. Und die Behauptung, dass das Erreichte "immer anders war" als das Erwartete und "trotzdem Rudolf Steiners Mitteilungen bestätigte", klingt widerspruchsvoll. Es ist nämlich äußerst unwahrscheinlich, dass der enge Kreis der von Steiner besonders Eingeweihten seine Vorträge, Schriften und Schauungen nicht kannte und somit etwas völlig anderes erwartete als das, was er mitgeteilt hatte. Das Gegenteil dürfte zutreffen.

4.2. Die Zirkelschlusshaftigkeit der.Argumentation:

Freilich ist es für einen Außenstehenden unmöglich, subjektive "Schauungen" zu beurteilen. Eines aber steht fest: sie können, solange sie nicht allgemein nachprüfbar und nachvollziehbar sind, nicht als Beweis dienen. Allgemein nachprüfbar und nachvollziehbar aber werden sie laut Steiner in absehbaren Zeiträumen nicht sein, weil die meisten Menschen nicht die entsprechende "Begabung', und das entsprechende "Schicksal" haben, um "an die Offenbarungen der Geisteswelt herangeführt zu werden" – nicht einmal innerhalb der Theosophischen und Anthroposophischen Gesellschaft.

Steiner nennt Beispiele:

"Es könnte jemand sagen: Ich weiss gar nicht, warum ich in dieser Gesellschaft bin. Da werden immer Dinge der höheren Welten erzählt; das ist ganz schön, aber mir wäre es lieber, wenn ich auch nur ein klein, klein wenig sehen könnte, durch hellsichtiges Schauen. – Ich kenne einen sehr gelehrten Theosophen, der seine inbrünstige, Sehnsucht, auch einmal hinauszukommen über die bloße Gelehrsamkeit zum Sehen, damit ausgesprochen hat, dass er sagte: Wenn ich auch nur einmal in der Lage wäre, das Ende des Schwänzchens eines Elementanwesens zu sehen!" (Steiner-GA 117,77).

In diesem Zusammenhang entfaltet Steiner seine Begründung für das Nicht-Schauen-Können:

"Sehen Sie, Sie alle waren einmal hellsehend in uralten Zeiten. Denn alle Menschen waren hellsehend, und zwar gab es Zeiten, in denen die Menschen zurückgesehen haben weit, weit in der Zeitenwende. Und nun können Sie fragen: Ja, warum erinnern wir uns nicht an unsere früheren Inkarnationen, wenn wir doch schon in der Zeitenwende rückwärtsschauen konnten? ... Die Frage ist außerordentlich wichtig. Es erinnern sich so viele nicht an ihre früheren Inkarnationen, obwohl sie in höherem oder geringerem Masse hellsichtig waren in früheren Zeiten, weil sie damals nicht ausgebildet hatten diejenigen Fähigkeiten, die gerade die Fähigkeiten des Selbstes, des Ichs sind" (117,78f).

Betrachten wir diese Argumentation genauer:

Steiner stellt fest, dass viele trotz "inbrünstiger Sehnsucht" nicht in der Lage sind, hellseherische Schauungen zu erlangen. Der Grund hierfür wird in der Vergangenheit gesehen: Sie haben "die Fähigkeiten des Selbstes, des Ichs" nicht ausgebildet (wir treffen hier auf die Steinerschen Lehren von den verschiedenen Leibern und der Reinkarnation). Diese Argumentation dreht sich im Kreis. Die Steinerschen Lehren von der Reinkarnation und den verschiedenen Leibern werden benutzt, um den Steinerschen Erkenntnisweg zu stützen. Diese Lehren ihrerseits aber wurden auf dem Erkenntnisweg gewonnen. Der Erkenntnisweg liefert die Weltanschauung, die Weltanschauung stützt den Erkenntnisweg. Die Steinersche Argumentation ist ein Zirkelschluss, und sie ist systemimmanent. Sie ist nur innerhalb des anthroposophischen Systems logisch, außerhalb nicht. Das doppelte Problem, welches sich stellt, ist aber, dass nicht nur die Beurteilung von außen versagt, sondern dass auch keiner (außer Steiner selber) den Erkenntnisweg bis zum Ende durchschritten hat, so dass der Beweis für die Richtigkeit seiner Schauungen bis heute aussteht. Wie verhält es sich nun mit der "gesunden Urteilskraft ", dem "Denken" oder der "Vernunft", deren Gebrauch Steiner immer wieder fordert? Auch sie werden systemimmanent gebraucht. Ihre Anwendung beschränkt sich darauf, die von Steiner mitgeteilten Schauungen zu verstehen und zu prüfen, ob die eigenen Erkenntnisse damit übereinstimmen (vgl. 117,74; 601,252f). Anstelle eigener Erkenntnisse steht letztendlich der Glaube an den Begründer der Anthroposophie: an Rudolf Steiner und seine "Schauungen".

5. Theologische Kritik der "Erkenntnisse höherer Welten":

Friedrich Rittelmeyer schreibt:

"Die Theologen führen heute mit Vorliebe das Wort des Paulus im Schilde, dass wir im `Glauben' leben und nicht im `Schauen'. Tatsache ist aber, dass das geschichtliche Christentum in allen seinen Hauptgestalten und in allen seinen Hauptgeschehnissen auf dem `Schauen' beruht" (1930, 9).

Rittelmeyer nennt als Beispiele verschiedene biblische Berufungserlebnisse (Mose, Elia, Paulus), die "Schau" des gottgesandten Christus durch Johannes den Täufer, das Wort Jesu

"Ihr werdet den Himmel offen sehen! ",

die "Schau" des Auferstandenen durch die Jünger und die "Visionen Johannes des Sehers". Dann fährt er fort:

"Ein Glücksfall wäre es, wenn ein Mensch aufträte, der Schau-Erlebnisse aus eigner Erfahrung kennt, der sie aber als Gegenwartsmensch mit bewusster Kritik zu durchdringen vermag."

Dieser Mensch ist nach Rittelmeyers Darstellung Rudolf Steiner (ebd., 14ff.). Kann sich die Steinersche Schau wirklich auf biblische Berichte stützen? Zur Beantwortung dieser Fragen ziehen wir die von Rittelmeyer genannten Beispiele heran und betrachten sie genauer:

a. Nach dem Bericht des 2. Mosebuches (Ex) kommt die Gottesoffenbarung und Berufung am brennenden Dornbusch für Mose plötzlich und überraschend (er "hütete Schale"; Ex 3,1). Sie ist mit anfänglichem Nichtverstehen verbunden (Ex 3,3) und hat Furcht und Unwilligkeit auf der Seite Moses zur Folge (Ex 3.6.11-4,10). Der Text gibt keinen Raum für die Vorstellung von einer gezielten Vorbereitung Moses auf dieses Ereignis, wie die Anthroposophie sie behauptet.

b. Auch in der Erzählung von der Offenbarung gegenüber Elia kann eine Vorbereitung nur bedingt vorausgesetzt werden. Elias Neubeauftragung (1. Kön 19) erfolgt zu einer Zeit, in der er sich in einem Zustand großer Angst und Niedergeschlagenheit den Tod wünscht (V. 3f) – in einer Situation also, in der alle eigenen Kräfte – auch hypothetische Erkenntniskräfte – versagen. Höchstens das Fasten (V. 8) könnte man u.U. als eine Art von Vorbereitung deuten, die jedoch mit dem Steinerschen Erkenntnisweg überhaupt nicht übereinstimmt.

c. Als Johannes der Täufer nach dem Bericht des vierten Evangeliums Jesus als den Sohn Gottes erkennt (Joh 1,29-34), geschieht das nicht durch eigenes menschliches Bemühen ("ich kannte ihn nicht"; V. 31 und 33), sondern durch die unverfügbare Offenbarung Gottes, die der Täufer nur staunend sehen und bezeugen kann (V. 34).

d. Das gleiche gilt für Jesu Verheißung "Ihr werdet den Himmel offen sehen " (Joh 1, 51). Diese bezeichnet ein außerordentliches gnädiges Geschenk Gottes an die Jünger und die Gemeinde.

e. Bei den Erscheinungen des Auferstandenen vor den Jüngern sprechen vor allem die Evangelien nach Lk und Joh nicht von einer "Schau" im Sinne einer unleiblichen Vision, sondern sie betonen mehrfach die leibhafte Begegnung (Lk 24,39ff; Joh 20,27 u.ö.). Die Erscheinungen sind keine Träume, sondern Offenbarungsgeschehen. Sie erfolgen völlig überraschend und ohne Vorbereitung der Jünger, was daran deutlich wird, dass diese die Voraussagen Jesu über seine Auferstehung nicht verstanden hatten (Lk 18,34; Joh 2 (1,19) und dass sie den ersten Botinnen und Boten der Auferstehung nicht glaubten (Lk 24,11; Joh 20,25). Die Ursache für dieses Verhalten liegt im Bruch zu den vorhergegangenen Worten und Aufträgen, der durch den Tod Jesu eingetreten war und der erst durch die Begegnung mit dem Auferstandenen überwunden wurde (Auferstehung Jesu Christi).

f. Auch dem Saulus erscheint Christus vor Damaskus "plötzlich" (Apg 9,3) und bewirkt eine totale Kehrtwendung seines Lebens: Aus dem Christenverfolger wird der christliche Missionar. Diese Beobachtungen sprechen gegen eine Vorbereitung der Auferstehungszeugen und des Saulus auf diese Ereignisse. Sie sprechen für die Souveränität des sich offenbarenden Christus.

Diese sehr unterschiedlichen Beispiele zeigen, dass sich die Steinersche Schau nicht auf die biblischen Berichte über "Schauungen" stützen kann. Die "Schauungen" im Alten und im Neuen Testament werden aus der freien Souveränität und Gnade Gottes heraus auserwählten Menschen überraschend und ohne deren besondere Vorbereitung geschenkt. Sie kommen durch >Offenbarung, durch einen unverfügbaren Akt der Selbstmitteilung Gottes ("von oben"), zustande." Zwar knüpft Gott an die Lebensgeschichte und an die Erfahrungen dieser Menschen an und stellt sie durch die Offenbarung in seinen Dienst, aber eine Schulung zum Hellseher, wie es Steiner postuliert, wird in den alt- und neutestamentlichen Texten gerade nicht vorausgesetzt. Zu einem eigenmächtigen Eindringen in den Bereich göttlicher Geheimnisse durch menschliches Erkenntnisstreben ("von unten") ist hier in keinem Fall die Rede. Dieser Weg des eigenmächtigen Eindringens in übersinnliche geistige Bereiche entspringt dagegen dem Weg des Okkultismus und Spiritismus, den die der wahre Gott der Bibel strikt ablehnt. Auch dem Wesen der >Engel als Boten des souveränen Gottes widerspricht es, dem Menschen eigenmächtig Erkenntnisse der geistigen Welt zu vermitteln. Die Wesen, die dies tun, sind lediglich die von Gott abgefallenen Engel, die Dämonen.       

S. auch: Akasha-Chronik; Anthroposophie; Astrologie; Christengemeinschaft; Mystik; Neuoffenbarung; >Offenbarung; Okkultismus; Reinkarnation; Rittelmeyer, Friedrich; Spiritismus; Spirituelle Interpretation; Steiner, Rudolf.

Lit.: R. Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? (1904/05; TA 600, 7. Aufl. 1985) ; ders., Die Geheimwissenschaft im Umriss (1910 ; TA 601, 4. Aufl. 1981). – Kritisch: L. Gassmann, Anthroposophie, 2000.

Lothar Gassmann


Index

Etliche Texte sind auch in gedruckter Form erschienen in verschiedenen Handbüchern (je 144-200 Seiten, je 9,80 Euro):

1. Kleines Sekten-Handbuch
2. Kleines Kirchen-Handbuch
3. Kleines Ökumene-Handbuch
4. Kleines Endzeit-Handbuch
5. Kleines Katholizismus-Handbuch
6. Kleines Anthroposophie-Handbuch
7. Kleines Zeugen Jehovas-Handbuch
8. Kleines Ideologien-Handbuch
9. Kleines Esoterik-Handbuch
10. Kleines Theologie-Handbuch

Weitere Handbücher (über Theologie, Esoterik, u.a.) sind geplant. Informationen bei www.l-gassmann.de